Blog

Der Strukturwandel in peripheren Regionen

In vielen unserer vorhergegangenen Blogbeiträgen und anderen von uns veröffentlichten Texten ist die Rede von strukturschwachen Regionen. Doch warum gelten diese Regionen als strukturschwach? In einem unserer letzten Beiträge wird der demografische Wandel als ein Grund beleuchtet, er ist aber sicher nicht der einzige. Die Ursachen und begünstigenden Dynamiken für den regionalen Strukturwandel sind vielfältiger und komplexer. Deshalb möchten wir in diesem Blogbeitrag den Strukturwandel zum Thema machen und haben Matthias Hannemann, Wirtschaftsgeograph an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Koordinator der wecare-Agentur, dahingehend befragt.

Zur Definition des Strukturwandels

Wirtschaftlicher Strukturwandel kann wirtschaftsgeographisch in zwei Arten unterschieden werden. Zum einen wird der sektorale Strukturwandelbetrachtet, der durch Veränderungen im Verhältnis der Wirtschaftssektoren, wie z. B. Urproduktion, Industrie und Dienstleistungen, gekennzeichnet ist. Zum anderen wird Strukturwandel vor dem Hintergrund regionaler Spezifika betrachtet. Regionaler Strukturwandel meint das Zusammenwirken verschiedener „Vorgänge, die die Bestandteile und Elemente, die Kompetenzen und Fertigkeiten sowie die Zusammenhänge der Bestandteile und die Infrastruktur einer eingegrenzten Region verändern“. [1].
Regionaler Strukturwandel hängt von verschiedenen ursächlichen Faktoren ab. Dazu gehören Standortfaktoren, die Demografie oder Binnenwanderung, aber auch die regionalen Wirtschaftsstrukturen, welche u. a. mit Dynamiken des technischen Fortschritts und der Digitalisierung verknüpft sind [2]. Klassische Strukturwandelregionen sind z. B. ehemalige oder in Transformation befindliche Kohle- und Bergbauregionen. In diesen Regionen stehen wirtschaftliche Strukturen vor einem vergleichsweise hohen Veränderungsdruck, was sich wiederum auf die demografische, wirtschaftliche sowie infrastrukturelle Entwicklung der Regionen auswirkt. Für Ostdeutschland halten die AutorInnen Sebastian Henn und Susann Schäfer beispielsweise fest, dass die Regionen mit geringem Entwicklungspotenzial „den bedeutendsten Regionstyp“ [3] ausmachen und 97% der Fläche Ostdeutschlands betreffen. Dabei handelt es sich mehrheitlich um ländliche Räume, die von geringer Wirtschaftskraft, einer geringen Dienstleistungsquote und dem Rückgang der Bevölkerung gekennzeichnet sind.  

Wie sich der Strukturwandel in den Erprobungsregionen von wecare äußert, erläutert Matthias Hannemann:

„Der Strukturwandel beinhaltet starke Auswirkungen auf Bevölkerungs- und Wirtschaftsstrukturen in diesen überwiegend ländlich geprägten Regionen. Wir haben es hier in der Region mit deutlich spürbaren demographischen Veränderungen zu tun, insbesondere mit einem Bevölkerungsrückgang und einem hohen Durchschnittsalter – zwei Entwicklungen, die auch im bundesweiten Vergleich als signifikant bezeichnet werden können. Auch der arbeitsplatzbezogene Strukturwandel zeigt sich in den Erprobungsregionen sehr deutlich. Bisher stark verbreitete Arbeitsplätze in eher klassischen Berufsfeldern werden weniger, wohingegen mehr Arbeitsplätze in zukunftsorientierte Branchen geschaffen werden. Fachkräftegewinnung und-sicherung, Digitalisierung sowie die Energie- und Verkehrswende sind die zentralen Herausforderungen für die Regionalentwicklung.“

Strukturwandel und seine Konsequenzen

Regionale Strukturwandelprozesse verlaufen nie identisch, sondern sind vielfältig. Auch ihre Konsequenzen unterscheiden sich je nach Region, sie können sowohl vorteilig als auch nachteilig ausfallen. Eine positive regionale Entwicklung kann dann gelingen, wenn „'schlechte' Strukturen durch 'bessere' Strukturen ersetzt werden“ [4]. „Bessere“ Strukturen können durch neue Unternehmensansiedlungen oder infrastrukturelle Veränderungen geschaffen werden, welche wiederum einen Bevölkerungszuwachs aufgrund von erweiterten Beschäftigungsmöglichkeiten fördern. Dieser positive Strukturwandel ist jedoch u.a. auch von Innovationen und Investitionen abhängig. Ein negativer Strukturwandel kann u. a. durch einen wenig attraktiven Arbeitsmarkt, unzeitgemäße Infrastruktur bzw. einen Infrastrukturverfall, Rückgang der Bevölkerung und auch weit verbreitete Unzufriedenheit in der Bevölkerung geprägt sein. Das Gefühl des „Abgehängtseins“ kann sowohl kulturelle, wirtschaftliche als auch infrastrukturelle Dimensionen annehmen [5]. „Abgehängtsein“ meint dann erstens prekäre Lebenssituationen, niedrige Lebensstandards oder schlechte Lebensverhältnisse sowie das darin gründende Gefühl, nicht von dem wirtschaftlichen Aufschwung profitiert zu haben. Zweitens fühlen sich Menschen aus strukturschwachen Regionen in ihrer kulturellen Identität abgewertet und von der Politikvernachlässigt. Drittens meint das infrastrukturelle Abgehängt sein, dass der Zugang zu bestimmten Infrastrukturen (Mobilität, Gesundheitswesen und Bildung)verwehrt wird. In solchen sogenannten „left-behind places“ können negative Emotionen, wie z. B. Unzufriedenheit, Wut und Ängste, die problematischen Dynamiken zusätzlich befördern.

Strukturschwache Regionen fördern

Prozesse des regionalen Strukturwandels und damit einhergehende Einstellungen der Bevölkerung stellen die Politik vor eine schwierige Aufgabe. Aus diesem Grund haben wir Matthias Hannemann im Hinblick auf das wecare-Bündnis folgendes gefragt: Wie kann aus dem Strukturwandel in den einzelnen Regionen eine positive Entwicklung erfolgen?

„Es gilt, die Herausforderungen auch als Chancen zu begreifen, vorhandene Ressourcen und Potentiale zu nutzen und sie mit innovativen Ansätzen zu kombinieren. Aus unserer Sicht ist es dafür zentral, multidisziplinäre Netzwerke zu etablieren, die ganz ausdrücklich auch die AkteurInnen in den ländlichen Regionen einbeziehen, um dem Flächenlandcharakter Thüringens gerecht zu werden. Als gutes Beispiel kann die Entwicklung des Technologie-Sektors im Ilm-Kreis dienen: Hier entwickelte sich auf Basisvorhandener Expertisen aus dem Ingenieurswesen und Maschinenbau ein spezialisiertes und hochinnovatives Technologie-Cluster, das diverse positive Effekte in der Region und auch darüber hinaus bewirkt. Das wecare-Bündnis will mithilfe der Agentur dazu beitragen, verschiedene AkteurInnen aus dem Gesundheitswesen mit Unternehmen vielfältiger Branchen und weiteren Stakeholdern zu einem trag- und zukunftsfähigen Netzwerk zusammenzubringen, um konkrete Ideen zu entwickeln und letztlich in Projekten mit regionalem Bezug umzusetzen. Diese Projekte sollen also nicht nur positive Effekte auf die Gesundheitsversorgung bewirken, sondern ganz ausdrücklich auf die gesamte Regionalentwicklung mit Blick auf die oben skizzierten Herausforderungen.“

 

Literatur:

[1] Koschatzky, K. (2018). Innovationsbasierter regionaler Strukturwandel-Theoretische Grundlagen und politische Handlungsspielräume. Innovationsbasierter regionaler Strukturwandel in Deutschland. Chancen, Risiken und politische Perspektiven. Stuttgart: Fraunhofer Verlag, 5-49.

[2] Bathelt, H., & Glückler, J. (2018).Wirtschaftsgeographie: ökonomische Beziehungen in räumlicher Perspektive. utb GmbH.

[3] Henn, S., & Schäfer, S. (2020). Wirtschaftsräumliche Struktur und Entwicklung Ostdeutschlands. Ein Überblick. Regionalentwicklung in Ostdeutschland: Dynamiken, Perspektiven und der Beitrag der Humangeographie,85-98.

[4] Koschatzky, K. (2018). Innovationsbasierter regionaler Strukturwandel-Theoretische Grundlagen und politische Handlungsspielräume. Innovationsbasierter regionaler Strukturwandel in Deutschland. Chancen, Risiken und politische Perspektiven. Stuttgart: Fraunhofer Verlag, 5-49.

[5] Krajewski, C., & Wiegandt, C. C. (2020). Land in Sicht. Vielfalt ländlicher Räume in Deutschland: zwischen Prosperität und Peripherisierung. Bonn.

Ihre Ansprechpartnerin

Sofie Lutterbeck